Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater etwas auf einen mintgrünen Post-it-Zettel. Er steigt die Wendeltreppe hinunter in die Bibliothek und holt seinen Revolver. Dann geht er durch den schmalen Gang hinaus aus unserem Haus in den Hof. Dort legt er sich unter unseren alten großen Nussbaum. Ich weiß nicht, ob er dabei irgendwann gezögert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schießt er sich in den Hinterkopf. Sein Tod teilt mein Leben in ein Vorher und ein Nachher.

Unter seinen Sachen finde ich eine Menge Zeichnungen und Unterlagen über Kopfschüsse: Wo ist die beste Einschussstelle? Wie ist man sofort tot, entstellt aber nicht sein Gesicht? Er hat sich gut vorbereitet. In der Welt, die nach seinem Tod für mich explodiert, in dieser Mischung aus Wut und Trauer, aus Frust und Aufregung, ist da eine liebevolle Dankbarkeit: dafür, dass er uns davor bewahrt hat, ihn mit halb zerrissenem Schädel sehen zu müssen. Es muss jedenfalls ziemlich gehallt haben, vor dem Haus geht es bergab, Wälder und Wiesen ringsum. Meine Mutter ist nicht zu Hause. Als sie ihn dann später sucht, fällt sie in der Dunkelheit fast über ihn. Es beginnt zu regnen. Alles Blut wird weggeschwemmt.

"Papa ist in der Nacht gestorben. Er hat sich erschossen." Als wir telefonieren, klingt meine Mama zittrig und unglaublich erschöpft. Ich sage, dass ich ins Burgenland kommen werde, und noch ein paar Sachen, an die ich mich nicht mehr erinnere. Wenn ich stillhalte, merke ich, wie in mir ein Knoten wächst und wächst.

Mein Vater, der stolze, selbstbewusste, dominante Mann, ist tot? Selbstmord? Es kommt mir unwirklich vor. Ich fühle mich wie in einem Film, alles wartet auf die Pointe. Ich merke, wie mein Körper Unmengen an Adrenalin ausschüttet. Ab und zu schüttelt es mich, ich schluchze, aber ich weine nicht. Ich habe panische Angst vor dem, was mit mir passiert, wenn der Adrenalinschub nachlässt. Ich kann das Dunkel dahinter förmlich sehen. Ich schiebe die Angst weg, indem ich mich beschäftige. Ich fahre ins Burgenland. Je näher ich unserem Haus komme, desto unruhiger werde ich. Fast muss ich lachen.

Mein Vater war neugierig, hochintelligent und auf der Suche, er war im Laufe seines beinahe siebzigjährigen Lebens Schriftsteller, Regisseur, Kameramann, evangelischer Pfarrer, Musiker und Landwirt. Er war depressiv, er hat gern mal getrunken, beides hat sich im Alter verstärkt. Er war unser Vater, und wir haben ihn bewundert und geliebt.

Eine Woche vor seinem Tod habe ich ihn das letzte Mal lebend gesehen. Ich war das Wochenende über zu Hause, und kurz bevor ich fahre, renne ich ihm an der Küchentür in die Arme. Er hält mich fest und sagt, dass er mich liebt. Ich lache und umarme ihn. Ich sage ihm, dass ich ihn auch liebe. Er hat sich von mir verabschiedet. Es ist schaurig, dass er wusste, dass wir uns nie wieder sehen, ich aber nicht.

Zum/r Autor/in

Geboren 1981 im Burgenland, lebt in Hamburg und in Wien. Nach der Matura hat Saskia Jungnikl ein Jahr lang gearbeitet, dann Geschichte studiert und war anschließend auf einer Fachhochschule für Journalismus. Neben dem Studium hat sie begonnen Artikel zu schreiben. Der Artikel über den Suizid ihres Vaters, den Saskia Jungnikl in der österreichischen Tageszeitung »Der Standard« veröffentlichte, löste eine riesige Resonanz aus und wurde mit der Ehrenden Anerkennung des Claus-Gatterer-Preises und mit dem Leopold Ungar Journalismuspreis ausgezeichnet. Seit 2007 schreibt Saskia Jungnikl als Redakteurin unter anderem für die Stadtzeitung »Falter«,die Österreich-Ausgabe der »Zeit«, das Monatsmagazin »Datum« und den »Standard«. Anfang November 2014 erschien im S. Fischer-Verlag Saskia Jungnikls erstes Buch "Papa hat sich erschossen". Zur Zeit arbeitet sie an einer Drehbuchfassung dieses Buches und an einem zweiten Buch.

Veröffentlichungen:
" Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden", S. Fischer Verlag 2017
"Papa hat sich erschossen", S. Fischer Verlag 2014

Autoren A - Z

{{ to-top }}