Zick

Den Sommer verbrachte ich in einer der unwegsamen Provinzen im Osten des Reiches bei einer älteren, nun alleinstehenden Verwandten. - Die Tage in diesem flachen, wie niedergebrannten Landstrich schienen kurz, flüchtig, kaum erinnerlich zu Beginn der trocken-kalten Nächte, in denen die Haut der Sterbenden wie Töpferglasur zerspringt.Die täglichen Verrichtungen, die ich nach kurzer Zeit schon wie träumend besorgte, beschäftigten meine Aufmerksamkeit nicht, nur die rechte Hand, während die linke, häufig fest zur Faust geschlossen, wie ein Stein im Sack meiner Uniformhose ruhte. Es war die Hose meines Onkels, des Bruders meines Vaters und meiner neuen Quartiergeberin, der kurz zuvor als Postbeamter im Dienst einem Gehirnschlag erlegen war.Ein Brauch der barbarischen Bevölkerung dieses öden, von den Errungenschaften der Zivilisation nur im negativen berührten Gebietes hieß den ältesten, am nächs­ten stehenden männlichen Angehörigen für die Dauer eines Jahres in die Kleider des Verstorbenen schlüpfen. Dieses Los hatte ich gezogen. Onkel und Tante waren unverheiratet und kinderlos geblieben; ich war das drittgeborene von vier Kindern, aber das einzige aus meiner Mutter zweiter Ehe. Mein Vater war noch vor meiner Geburt im Krieg gefallen.So sollte ich nun in dem viel zu weiten, um Brust und Beine flatternden Gewand, das um den Bauch von einer Schnur zusammengehalten wurde, wie man sie für das Zusammenbinden von Postsäcken verwendet, das plötzlich verlöschte Leben des Onkels weiterführen, sei es, weil der Erfinder dieser menschenunwürdigen Einrichtung damit versprochen hatte, die feindlichen Geister zu bannen, sei es, dass er geglaubt hatte, die Seelen der Verstorbenen würden eher Ruhe finden, wenn sie dann und wann in der ersten, schweren Zeit nach dem Tod ihre alte Umgebung heimsuchten und alles Rechtens vorfanden.Wahrend dieses ersten Jahres nach dem Tod war es den Hinterbliebenen bei Körperstrafe untersagt, Türen und Fenster ihrer Wohnstätten zu verschließen. - Diese Einrichtung, so wurde mir erklärt, ergäbe sich folgerichtig aus dem vorhin genannten Brauchtum, durch sie sollte die unbehinderte Einkehr der heimatlos gewordenen Seele gewährleistet werden: Das Haus sollte offenstehen, ein Bett für den Verstorbenen frisch bezogen sein, ein Teller mit einem einfachen Reisgericht, mit Früchten je nach Jahreszeit und einem Stück kalten Gebratenen sollte in der Speisekammer warten. - In Wahrheit aber war diese Bestimmung die verkümmerte Frucht eines einst wohl fortschrittlich zu nennenden Gesetzes, das konsequent auf eine gewaltlose Umverteilung des Eigentums abgezielt hatte, indem es die Hinterlassenschaft der Verstorbenen auf Jahresfrist zur freistehenden Sache erklärte. Jedermann durfte sich ihrer so lange in angeborener Freiheit bemächtigen und jedermann durfte sie - unter Schonung der Substanz - als seine Sache betrachten, wobei er ihre Fruchtnießung ohne alle sonstigen Einschränkungen auskosten konnte.Unter der Patronanz des schönen Scheins eines sinnlosen Brauchtums machte sich also die verarmte Bevölkerung rücksichtslos die ursprüngliche Absicht des Gesetzes wechselseitig zunutze, indem sie sich an der spärlichen Verlassenschaft der Verstorbenen bereicherte, bis ein Todesfall in der eigenen Familie alle Frucht- und Nutznießungsrechte gegenstandslos machte.

Zum/r Autor/in

Geb. 1942 in Graz. Studium der Germanistik und Anglistik in Graz und Seattle, USA. 1973-74 Sekretär der Grazer Autorenversammlung. Lehrtätigkeit an der Bundeshandelsakademie in Graz. Lebt als Autor und Übersetzer in Graz.
Zahlreiche Preise und Auszeichnungen u.a. Alfred-Döblin-Preis 1981, Förderungspreis des Ministeriums für Unterricht und Kunst 1982, Literaturpreis des Landes Steiermark1986, „manuskripte"-Preis des Forum Stadtpark 1992.

Zahlreiche Veröffentlichungen:

u.a. „Halbwegs. Bei den Bieresch I", „Der große Potlatsch. Bei den Bieresch II", beide S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1979 und 1983, „Pusztavolk. Essay", Literaturverlag Droschl, Graz 1991, zuletzt: „Die Nähe des Fremden. Essays", Droschl 2007

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