Esch

Du sitzt auf der Wiese hinter der Stadt und schaust über die fahrige Dachlandschaft. Es beginnt zu regnen. Doch du rührst dich nicht. Du wartest. So lange willst du dich nicht von der Stelle rühren, bis es passiert. Du spürst, wie dir die Tropfen die Kälte unter die Haut treiben. So sitzt du Minuten, Stunden, Tage. Dass das Vergessen so nicht funktioniert, habe ich dir oft genug gesagt. Aber du hast mir ja nie geglaubt. Du willst das Feuer mit Wasser bekämpfen.

An einem müden Septembernachmittag im Jahr 1903 rennt Elisabeth Schiller, lautlos und ohne sich umzuwenden, aus der Hintertür ihres Elternhauses und klettert auf den morschen Birnbaum am Ende des Gartens. Ein eiliger Blick über die Schulter. Von ihren Brüdern ist nichts zu sehen. Sie ahnt nicht, dass sie ihr Schicksal besiegelt, als sie sich nach einer Birne streckt. Denn es wird die Narbe sein, die ihr von diesem Kindheitsabenteuer bleibt, der Johannes Kindler Jahre später verfallen wird. Sie markiert fortan Elisabeths Neugier und Begeisterung, ihren Zorn und ihre Scham, ihre Freude und ihre Trauer. Ihr glühendes Gemüt züngelt vom rechten Ohr in einer unruhigen Linie hin zum Schlüsselbein. Wir machen uns einen Spaß daraus ihre Narbe zum Leuchten zu bringen. Dabei ist es für uns nicht so sehr der Anblick ihres flammenden Ärgers, als ihre darauf folgende ungeteilte Aufmerksamkeit, denn sie lässt keinen unserer Streiche ungestraft. Nichts ist schöner als von ihr verfolgt, angefasst, gefangen zu sein. Wir spielen das Spiel gemäß den von ihr erdachten Regeln. Wenn man sie dann ganz für sich allein hat, teilt sie an glücklichen Tagen ihre Welt. Am steilen Hang hinter der Stadt, wo der Blick sich weiten kann auf Asch und die träge machende Weite. Neben ihr im Gras liegen und die Augen schließen. Woran denkst du. Woran denkst du? Du hast die Welt jeden Tag neu erfunden, hat sie Dir erdacht, zurechtgelegt, verschönert. Und nur mich davon kosten lassen, manchmal, als wir noch Kinder waren. Woran denkst du, das habe ich dich nie gefragt, aus Angst vor deinem Spott. An einem unserer gemeinsamen Ausflüge wendet sie sich mir blinzelnd zu. Ein Rudel Wölfe habe den Weg bis hinunter zum Stadtrand gefunden. Ich weiß nicht, ob ich aufspringen und davonrennen soll. Und sie bricht in schallendes Gelächter aus. Unsere gemeinsamen Ausflüge auf die Wiese enden immer auf die gleiche Weise. Sie streckt die Nase in die Luft und sagt ich kann ganz deutlich riechen, dass du ein Verlierer bist und nie und nimmer vor mir zu Hause. Dann springt sie auf und läuft davon. Ich mache mir nicht die Mühe sie einzuholen. Ich bleibe noch eine Weile im Gras liegen und versuche selbst die Geschichten zu finden, die sich ihr angeblich durch bloßes Einatmen erschließen. Aber sie hat immer alle Düfte mitgenommen.

Ich erinnere mich, dass ich mich eines Nachts an sie heranschleiche, um an ihr zu riechen. Wie ich endlich neben ihr stehe und den Atem anhalte, wie ich mich über sie beuge und mich Zentimeter um Zentimeter an ihre Narbe, an ihr Haar, an ihre Haut vorarbeite. Mein Herzschlag muss mich damals verraten haben, denn sie schlug die Augen auf, als ich sie schloss, um ihren Duft aufzusaugen. Wenn ich heute meine Schwester besuche, beuge ich mich wie unbeabsichtigt ganz nah an den Grabstein und rieche daran. Warum schließt man die Augen, wenn man einen Duft ganz in sich aufnehmen möchte? Warum hört man nicht damit auf, wenn da nichts ist als das Moos, das sich an den Stein schmiegt? Warum wächst die Traurigkeit in der Dunkelheit? Und vergeht nicht, wenn man die Augen wieder öffnet? Ich will dir nicht verzeihen, dass dich in jener unglücklichen Nacht deine Sinne verlassen haben. Und dass mir seither alle Wohlgerüche schal geworden sind.

Zum/r Autor/in

Geb. 1971 in Deutschkreutz, studierte Spanisch und Medienfächer in Graz und publizierte in dieser Zeit erste Erzählungen und ein Hörspiel. Mehrere längere Studienaufenthalte in Spanien, Lektorin an der Universität Graz, seit 1997 Redakteurin ORF Burgenland. Literaturstipendium der Burgenländischen Landesregierung.

Veröffentlichungen:

"Missis Karlovits überfährt den Po", edition lex liszt 12, Oberwart 2019, "Teta Jelka überfährt ein Hendl" Roman, edition lex liszt 12, Oberwart 2011; „Die rote Nacht", Kurzgeschichte, ORF 1997; „Endales", Kurzgeschichte, ORF 1996; „Almenrausch", Hörspiel, gemeinsam mit David Stifter, ORF 1995; „Va Apetlon bis Zuberboch - Buchstobm fias Burgenland", Gedichte, gemeinsam mit David Stifter, ORF 1994

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