........ Die ganze Wand des Treppenhauses fehlt, ist abgerissen, zusammengefallen bei der Zerstörung des Nachbarhauses. Liegt als staubig-brockiger Haufen neben den Stiegen, die sich vom Straßenniveau in die Stockwerke des Hauses schwingen, immer noch. Es fehlt nur die Wand. Die Stiegen selbst liegen bloß, nahezu unverletzt, ziehen sich wie eine Zeichnung im Zickzack aufwärts, während aus den Wänden rechts und links die Eisenstäbe ragen. In der Luft hängt der Staub, golden in der Sonne, in der Nacht milchig, erschwert das Atmen. Die Wohnungstüren im Hintergrund wie in einer Theaterkulisse. Die Dinge leben stumm ihren Willen. Im zweiten Stock, lächerliches Detail, eine Topfpflanze.
Man kennt sich in diesem Haus, in dieser Straße. Man weiß, dass jemand fehlt, wenn jemand fehlt. Jeden Tag fehlen mehr. Sogar ihr Schlaf schon beladen mit Schicksal. Sie zieht sich nicht mehr aus zum Schlafen, sie schläft in einer Art Hausanzug, mit dem sie sofort aus dem Keller laufen kann, wo die verbliebene Hausgemeinschaft zusammengerückt ist. Einige davon haben sich diese Stiegen, diese Frei-Treppe hinauf in ihre Wohnungen gewagt. Haben Sachen herunter geholt, tastend Fuß vor Fuß setzend. Auch sie hat ihre Dokumente, ihr Sparbuch bei sich, in ihrem ehemaligen Aktenkoffer. Nachts, wenn sie schlaflos auf der Matratze liegt, die Arme um den Aktenkoffer geschlungen, hört sie die Schüsse und Treffer und die hektischen Folgetöne der Ambulanzen.
Einkäufe werden täglich schwieriger. Die Blockade macht sich bemerkbar. Strom gibt es nicht immer. Sie hat einen Vorrat Batterien für ihr tragbares Radio. Das Radio hämmert die absolute Notwendigkeit der totalen Feindvernichtung in die Hirne. Lernen heißt Wiederholen. Also noch einmal: Dies sei kein Krieg, sondern Selbstverteidigung.
Nein, das ist kein Krieg. Krieg muss erklärt werden, so heißt die Regel. Der Kopf dreht sich ihr. Wer will ihr denn Krieg ERKLÄREN? Er ist und bleibt unverständlich.
Sie ist so müde. Will nicht mehr mittun bei dem Hassen, bei dem Hin- und Her-Rächen. Sie fühlt: Einer müsste mit dem Aufhören anfangen.
Leicht gesagt. Und wer wagt es?
Das Stiegenhaus wird finster, sobald es auf der Straße finster wird. Auch die Dunkelheit hat mehrfache Muster. Zeitungen werden nicht mehr zugestellt. Wohin auch? Es gibt keine Haustür mehr, die zufallen kann. Wenn etwas fällt, ist es wirklich ein Schuss.
(Ausschnitt aus "Stiegen.Häuser", dem Siegertext von Christl Greller beim Joseph Heinrich Colbin Preis 2010)
Zum/r Autor/in
Geb. in Wien, lebt in Wien und im Burgenland, arbeitete in der Werbebranche, seit 1995 literarisch tätig. Mehr: http://www.greller.at/ Zahlreiche Auszeichungen, u.a. Luitpold Stern Förderpreis 1998, BEWAG Literaturpreis 1998, Wilhelm Szabo Lyrikpreis des Österr. Schriftstellerverbandes 2002, INTERNATIONAL POETRY PRIZE bei der Féile Filíochta 2005, Poem of Europe Award der Assemblée des Régions d'Europe 2005, Forum Land Literaturpreis / Prosa 2009, 1. Preis bei dem vom Netzwerk freier Kulturjournalisten für den deutschsprachigen Raum ausgeschriebenen Joseph Heinrich Colbin-Preis zum Thema "Die nackte Angst", 2010, erster Preis/Prosa, Forum Land - Literaturpreis 2012
Veröffentlichungen:
2022 berichte von der innenfront. Edition Lex Liszt 12, Oberwart
2018 und fließt die zeit wie wasser wie wort. Edition Lex Liszt 12
2016 stadtseelenland. Gedichte, Verlag Resistenz, Linz
2014 Im Narrenturm. Erzählungen, Edition Rösner, Mödling
2010 Podium Portrait 54: CHRISTL GRELLER - Neue Gedichte. Verlag Podium Wien
2009 "bildgebendes verfahren", Gedichte, Resistenz Verlag Linz
2006 "Donaustädter Mozart-Projekt: zartART", Lyrik-Zyklus (dazu Bilder-Zyklus von Milu Löff-Löffko und CD von Richard Fuller), Edition Roetzer Eisenstadt
2004 "veränderung ist", Gedichte, Resistenz-Verlag Linz
2002 "Nachtvogeltage", Roman, Edition Roetzer Eisenstadt.
2002 "Schattenwerfen", Erzählungen, Resistenz-Verlag Linz
Prosa und Lyrik der Autorin wurden weiters in vielen Anthologien, in österrreichischen und internationalen Literaturzeitschriften, im Internet, im Rundfunk und auf CDs veröffentlicht.