In der Legendenversion ist von Bluttränen die Rede, welche Martina im traumhaften Gedenken an die Leiden Christi und in Anbetracht der ständigen Rückschläge beim Aufbau der neuen Heimat vergossen habe. Entsprechend blutgetränkte Tücher werden als Reliquien in der Basilika von Neu-Frauenkirchen aufbewahrt. Laut Doktor Grandits hat Martina Zwickl ziemlich genau von der Geschlechtsreifung bis zum Klimakterium geschlafen.

Ob man nun der profanen oder der frommen Fraktion der Neuseewinkler mehr Glauben schenkt, es gilt zu bedenken, was Martina alles verschlafen hat: Bürgerkrieg, Nazizeit, Weltkrieg, Deportationen, Juden- und Zigeunermassaker, Vergewaltigungen, Kriegsgewinnlertum und Geschichtslügen in der Alten Welt; Katastrophen, Revolutionen, Haus- und Kircheneinstürze, etliche Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen in der neuen Heimat. Achtunddreißig Jahre lang hat sie nicht gezürnt, nicht gelogen, nicht betrogen, ist  nicht eifersüchtig, nicht geizig und nicht einmal eitel gewesen. Sie hat keine einzige Sünde begangen, da sie ihre ganze Zeit an aktivstem Menschentum verschlief.

Im Alter von fünfzig Jahren erwachte sie und natürlich glaubte sie sich - völlig unbelastet von jeglicher Geschichte - im alten Seewinkel, und gemäß ihren Erzählungen wurde er wiederaufgebaut.

Aus: „Die Schlafheilige" aus „Seewinkler Dodekameron"

Zum/r Autor/in

Geb. 1952 in Wien, Matura 1971, diverse Hilfsarbeiterjobs, Student der Anglistik und Philosophie, seit 1977 Lehrer; 1979 bis 1981 Universitätsassistent für amerikanische Literatur an der Universität Wien, nebenbei Amateurschauspieler; Folkmusiker (1984 LP Bakadi).
1990 Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, 1992 Übersetzerprämie des BMUKK.

Veröffentlichungen:

zuletzt erschienen:
2021 "Hundert Jahre Seewinkel"; 2019 "Die letzten hundert Jahre"; 2012 "Alles Holler oder das Unterste zum Oberst" Oberst Hollers ungelöste Fälle, Erzählungen, 2012 Weanarisch leana, Lesebiachl mit Gschichtln, Wuchtln, 2 Cee-Dehs (Hörmaterial im Ausmaß von ca. 3 Stunden), Grammatik, Wokaawen und Håusüwuŋgan; 2009 "Das Buch der Käuze"; 2009 "Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung"; 2006 "Zurück zur Schule"; 1999 „Aus der Schule", „Seewinkler Dodekameron", Wien o.J. (1998); 

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