(...) Seit Jahren hatte Agathe jeden Sonntag ein Huhn im Suppentopf gekocht; sie aß eine halbe Woche daran. Für zwei reichte das Essen nicht so lange, obwohl das Kind wenig Appetit hatte. Aber das Huhn schmeckte Agathe besser, seitdem sie es in Gesellschaft einnehmen konnte.
An einem Sonntagmorgen sah Viktoria, wie Agathe einem Huhn den Hals umdrehte. Viktoria musste zusehen, wie das Beil den Kopf vom Körper trennte, wie das Tier gerupft wurde, wie die Finger der Tante das Hinterteil des Huhns auseinander drückten, die Hand bis über das Handgelenk eintauchte. Sie musste, sollte zusehen und schloss die Augen, als Agathe ihr erklärte, wie man Gedärme, Magen und Herz aus dem Innersten des Huhns löst. Und ganz vorsichtig die Leber herausnehmen!
„Nächsten Sonntag darfst du ein Huhn rupfen und ausnehmen und auf den Herd stellen" drohte die Tante. Lieber wäre Viktoria in die Kirche gegangen, wenn es sein müsste, auch dreimal am Tag. (...)
Aus: „Machalan" 2000
Zum/r Autor/in
1958 - 2018, Max-Reinhardt-Seminar in Wien, Actor's Studio bei Lee Strasberg in New York. Engagements u. a. am Theater in der Josefstadt und am Wiener Volkstheater. Hauptrollen u. a. in der TV-Serie Calafatti Joe und dem Kinofilm Der Schüler Gerber. Seit 1991 Schauspielerin und freie Autorin in Wien.
Veröffentlichungen:
"365" Roman, Picus 2010; "Knesebeckstraße oder: einmal Kuba und zurück", Springer, Berlin 2007; "Schuh-Schuh und Gänseblümchen", Picus Verlag 2005; „Revolution der Steine. Eine israelisch-palästinensische Liebesgeschichte", Kremayr und Scheriau, München 2003; "VaterMorgana" Roman, Wien, Deuticke 2001 ; "Machalan" Roman, Wien, Deuticke 2000