Kinder der verlorenen Gesellschaft
mit Safiye Can
Lyrik, die Fragen stellt
Literaturhaus Mattersburg
„Kinder der verlorenen Gesellschaft“ bildet die Vielfältigkeit von Safiye Cans Lyrik ab. Der Band versammelt Gedichte unterschiedlichster Formen: visuelle und konkrete Poesie, Langgedichte, kurze Alltagslyrik, Miniaturen, dadaistische Gedichte - Can bespielt die lyrische Klaviatur mit Rhythmus und "Drive", mit Humor, Authentizität und atmosphärischer Sogkraft. Sie erzählt vom Aufwachsen mit Migrationshintergrund, von Integration, von der Liebe und von der Kindheit. Die Dichterin leitet seit 2004 deutschlandweit Schreibwerkstätten an Schulen und trägt auf unzähligen Lesungen ihre Texte vor. Performance ist ein wichtiger Aspekt ihrer Lyrik.
Safiye Can, die als Tochter türkischer Fabrikarbeiter in Offenbach aufwuchs, stellt in ihren Gedichten immer wieder die Frage nach Fremdsein, Heimat und Zugehörigkeit. Fantasievoll und (sprach-) spielerisch bewegt sie sich im Spannungsfeld orientalischer und okzidentaler Kultur. Immer wieder macht sie kulturelle Unterschiede zum Thema und ermöglicht es ihren LeserInnen, auch einen bewussteren Blick auf ihre eigene Kultur zu werfen.
Als Can eingeschult wurde, konnte sie nur wenig Deutsch. Sie ist Nachkomme von Tscherkessen, die vor mehr als 150 Jahren aus dem Kaukasus hatten fliehen müssen und Zuflucht an der türkischen Schwarzmeerküste fanden. Die Eltern, die als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen, sprachen mit der Tochter nur türkisch. In einen Kindergarten, wo sie vor der Einschulung hätte Deutsch lernen können, ging Can nicht. Keine guten Startbedingungen also für die Integration in die hiesige Gesellschaft? Aus dem „sprachlosen Kind“, das in seiner Geburtsstadt aufwuchs, Deutsch erst in der Schule lernte und dem viele nicht viel zutrauten, ist doch noch was geworden: eine Dichterin, die in deutscher Sprache schreibt und Literatur-und-Lyrik-Workshops für Schüler leitet.
Vielleicht ist Heimat ein Nomade mit Tukumbut
rastet hier und dort
oder ein Mickey Mouse-Shirt und Schnürschuhe
an der Ostsee
und das Haar zum Zopf geflochten
ist ein zersprungenes Glas auf das man tritt
jener unverhoffte Stich in der Brustgegend.
(Möglicherweise ganz und gar, S. 11)
Safiye Can
studierte Philosophie, Psychoanalyse und Rechtswissenschaft in Frankfurt am Main. Sie schreibt Lyrik und Prosa, übersetzt aus dem Türkischen und gibt Lyrikworkshops an Schulen. Safiye Can wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis (2016) und dem Alfred Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur (2016). Sie lebt in Offenbach.
Veröffentlichungen: Rose&Nachtigall. Liebesgedichte (2014); Das Halbhalbe und das Ganzganze, Erzählungen (2014); Diese Haltestelle hab ich mir gemacht. Gedichte (2015)